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Tendabahn
Tende
Tendabahn

Durch wilde Schluchten hinab ans Meer

Die abenteuerliche Tenda-Bahn führt mitten durch die wild-romantischen Seealpen. Auf dem Weg an die Riviera werden über 1000 Höhenmeter überwunden. Züge pendeln zwischen Italien und Frankreich.

Kaum jemand denkt beim Thema Alpen daran, dass die Gebirgskette in einem Bogen von Wien bis ans Mittelmeer reicht. Dabei wartet in den sogenannten "Seealpen" im italienisch-französischen Grenzgebiet ein spektakuläres Bahnvergnügen: die Tendabahn führt von Turin aus nach Ventimiglia und Nizza.

Kurz vor 14 Uhr ist es Zeit. Die Bahnhofsbar leert sich, die Espressotassen klappern in der Spüle. Ein letzter Schluck, dann geht es hinaus auf den Bahnsteig. "Vietato attraversare i binari" - unübersehbar steht das blaue Schild auf fast allen italienischen Bahnhöfen: Gleise überschreiten verboten! Auch in Cuneo, einer kleinen piemontesischen Stadt etwa 90 Kilometer südlich von Turin, schallt es regelmäßig aus den Lautsprechern: "Servirsi del sottopassagio" - man möge sich doch bitte der Unterführung bedienen. Doch nicht jeder macht sich die Mühe des Treppensteigens. Ein letzter Umsteiger vom Expresszug aus Turin nimmt den direkten Weg zu Gleis 3. Dort steht der blau-weiße Dieseltriebwagen der Baureihe Aln 663 abfahrbereit. Als kein weiterer Fahrgast mehr in Sicht ist, gibt der Zugabfertiger das Signal. Die Dieselmotoren heulen kurz auf, und langsam setzt sich der Triebwagen in Bewegung.

Der Weg ist das Ziel

Im Innern des Zuges gibt es nur noch wenige Sitzplätze. Angestellte aus Turin, ein paar Bauern und Schüler sind auf dem Heimweg. Bei zwei älteren, vornehm wirkenden Damen deuten die kleinen Koffer wohl auf die Endstation des Zuges: Ventimiglia, Urlaubsort am westlichen Ende der italienischen Riviera und Grenzstadt zu Frankreich. Warum sie wohl in diesem gewöhnlichen Schienenbus sitzen und nicht den doppelt so schnellen Expreszug über Savona nehmen? Vielleicht gilt für die Zwei ja noch die altmodische Devise des Reisens: der Weg ist das Ziel. Vielleicht gehören sie noch zu jenen Menschen, die zwei Stunden Bahnreise durch aufregende Landstriche einer monotonen Autobahnfahrt vorziehen.
Bei dieser Fahrt mit der Tenda-Bahn - so wird auf italienischer Seite die aus dem Piemont durch die Seealpen an die Riviera führende Eisenbahnstrecke genannt - werden sie garantiert auf ihre Kosten kommen.
Hinter Cuneo geht die flache Landschaft der Poebene in grün bewaldete Hügel über, die ersten Ausläufer der "Alpi marittime", der Seealpen. Nach wenigen Kilometern biegt der Zug ein ins Vermenagna-Tal und folgt dem gleichnamigen Flußlauf. Erstaunlich schnell werden die Berge spitzer, blanker Fels wird sichtbar und das Tal verengt sich. Schon durchquert die Bahn die ersten Tunnels, es geht stetig bergan.
Hinter Vernante glaubt man sich bereits mitten in den Alpen: wie am Gotthard verschwindet der Zug im Tunnel, beschreibt eine weite Kurve und kommt eine Etage höher wieder ans Tageslicht. Vom mächtigen Rivoira-Viadukt aus kann man tief unten das zurückliegende Streckenstück verfolgen. Gleich geht es in den nächsten Tunnel - einen von über vierzig, die auf dem Weg zur Mittelmeerküste durchquert werden.

Internationale Vergangenheit

Nur wenige Italienreisende kennen die Tenda-Bahn, benannt nach dem Örtchen Tenda südlich des fast 2000 Meter hohen Tenda-Passes. Dieser wiederum bildet seit 1945 die Grenze zwischen Italien und Frankreich, mit der Folge, dass Tenda seitdem französisch ist und nun "Tende" heißt.
Eigentlich ist die Tenda-Bahn eine internationale Bahnlinie. Von Norden aus Italien kommend erreicht sie nach dem acht Kilometer langen Scheiteltunnel am Tenda-Paß französisches Gebiet, um sich dann in Breil sur Roya wie ein Ypsilon zu verzweigen: rechts geht es ins französische Nizza, links ins italienische Ventimiglia.
In den dreißiger Jahren gab es über diese Bahnstrecke sogar Kurswagenverbindungen von der Riviera nach Berlin und Genf, aber heute ist sie für den internationalen Verkehr bedeutungslos. Regionaltriebwagen sind das Hauptverkehrsmittel auf der von Cuneo bis Ventimiglia 99, bis Nizza 143 Kilometer langen Strecke. Die Fahrt ist gemächlich, mehr als Tempo 50 sind auf der steigungsreichen, mit zahlreichen S-Schleifen und Kreiskehren gespickten Gebirgsbahn nicht drin. Dafür hat man aber Zeit und Muße, sich langsam der Küste zu nähern und dabei die malerische Landschaft der "Alpi marittime" zu genießen.
Der erste größere Halt auf dem Weg nach Süden ist Limone, ein beliebter Wintersportort mitten in den Seealpen. Der Zug wartet einige Minuten, bis auf dem Gegengleis der rotgelbe Triebwagen der französischen Staatsbahn SNCF einfrifft. Die italienische und die französische Eisenbahn teilen sich den Betrieb auf der Strecke, weshalb je nach Zielort entweder der französische (und teurere) oder der italienische Tarif gilt. Eine Fahrkarte von Turin nach Tende ist daher teurer als für die Gesamtstrecke bis hinunter nach Ventimiglia. Gleich hinter Limone beginnt der mit acht Kilometern längste Tunnel der Strecke. Fast zehn Minuten dauert die Fahrt unter dem "Col de Tende", dem Tenda-Pass hindurch. Ungefähr in der Mitte wird dabei die Staatsgrenze überquert. Wieder im Tageslicht hat sich die Landschaft deutlich verändert, auf französischer Seite wird es nun richtig abenteuerlich. Von nun an geht es steil bergab ins Roya-Tal. Über 1000 Meter Höhenunterschied sind bis zur Küste noch zu überwinden. Das übertrifft sogar bekannte Alpenbahnen wie die Gotthard- oder die Lötschberg-Simplonlinie.

Tunnel und Viadukte

Die Berge ringsum sind karg und nur spärlich von Bäumen bewachsen. Noch dominiert die Hochgebirgslandschaft, doch schon bald wird der Süden greifbarer, Zypressen und Olivenbäume treten ins Bild. Besonders beeindruckend sind jedoch die Dörfer, die teilweise wie Adlerhorste oben an den Felshängen kleben. Noch ist das abgeschiedene Tal vom Tourismus weitgehend unberührt, so daß sich Ortschaften wie Tende, St.Dalmas oder Saorge ihre mittelalterliche Struktur weitgehend bewahren konnten. Meist sind es Wanderer, die sich in die karge Gebirgswelt des Nationalparks "du Mercantour" verirren und nach den Felsenbildern aus der Bronzezeit forschen.
Der Zug rauscht derweil von einem Tunnel in den nächsten, überquert markante Viadukte und zieht abenteuerliche Schleifen. Manche Kreiskehren verlaufen fast vollständig im Bergesinneren. Auf der 76 Kilometer langen Strecke zwischen Breil und Cuneo werden 46 Tunnels durchquert, allein zwischen Limone und Breil fährt die Bahn über zwanzig größere Viadukte und Brücken. Für die vielen Tunnelfahrten wird man jedoch mit spektakulären Aussichten entschädigt. Immer wieder erhascht man einen Blick in die tiefe und stellenweise nur 40 Meter breite Roya-Schlucht. Wo angesichts senkrecht abfallender Felswände die Gleisbauer noch Platz für die Eisenbahn fanden, das kann man heute kaum mehr nachvollziehen. Und doch, der Zug braust stetig bergab, mal im Berg, mal über dem engen Gebirgsfluß, mal neben der schmalen Paßstraße, die sich in Schlangenlinien durch die Schlucht windet. Diese Autostraße durch das Tal wurde inzwischen ausgebaut und durch Tunnels begradigt. Dem Bahnverkehr wird dies nicht gerade zuträglich sein. Trotz kräftiger Rationalisierungsmaßnahmen beim Wiederaufbau, ist auf französischer Seite immer wieder ein Rückzug von der unprofitablen Nebenstrecke im Gespräch. Eisenbahnfreunde aus der Region versuchen dies durch Öffentlichkeitsarbeit zu verhindern.
Wahrscheinlich ist es bislang den Italienern zu verdanken, daß die Züge auf dieser faszinierenden Gebirgsbahn noch rollen. Mittelfristig sollen moderne Pendolino-Triebwagen mit Neigetechnik den Transitverkehr zwischen Ventimiglia und Turin über die kurvenreiche Tendabahn beschleunigen.


Zur Geschichte der Tenda-Bahn:

Zwischen den ersten Projekten für eine Bahnlinie von Piemont an die Riviera und der endgültigen Eröffnung im Oktober 1928 gingen fast achtzig Jahre ins Land. Der Tenda-Paß war zwar bereits um 1900 untertunnelt, so daß Züge bis Vievola rollten. Doch sowohl der Erste Weltkrieg als auch mangelndes Interesse auf französischer Seite verzögerten die Fertigstellung der Gesamtstrecke immer wieder. 1928 wurde die Verbindung zum Mittelmeer endlich feierlich eröffnet, wobei der Gleisbau im Roya-Tal übrigens bergabwärts erfolgt war.
Keine zwölf Jahre später standen die Räder schon wieder still: der Zweite Weltkrieg hatte 1940 auch das Roya-Tal erreicht, Frankreich und Italien waren Kriegsgegner. Zwar waren Abschnitte der Strecke für den Bahnverkehr noch nutzbar, doch beim Rückzug deutscher Truppen gegen Kriegsende wurden nochmals zahlreiche Viadukte und Tunnelbauten Opfer sinnloser Zerstörungswut. Am ärgsten hatte es den Viadukt von Saorge getroffen: er wurde im Laufe der Geschichte dreimal zerstört und komplett wiederaufgebaut.
In der Nachkriegszeit waren den Planern dann Autobahnen wichtiger als irgendwelche Gebirgsbahnen durch gottverlassene Gegenden. Das Mittelstück der Tenda-Bahn zwischen Limone und Breil lag fast 40 Jahre lang brach. Erst in den Siebziger Jahren beschlossen die italienische FS und die französische SNCF umfangreiche Rekonstruktionsmaßnahmen, um die Strecke zum Mittelmeer wieder befahrbar zu machen. Das französische Teilstück war in der Zwischenzeit deutlich länger geworden, denn die Landesgrenze hatte sich nach 1945 von St.Dalmas nach Norden bis zum Tenda-Paß verschoben. Der monumentale Grenzbahnhof aus der Mussolini-Zeit in St.Dalmas verwaiste und steht heute wie ein Dinosaurier in dem kleinen Gebirgsdorf.
Fast auf den Tag genau 51 Jahre nach der ersten feierte die Tenda-Bahn am 6.Oktober 1979 ihre zweite Eröffnung unter großem Jubel der Bevölkerung. Dampfsonderzüge weihten die neuverlegten Gleise ein und sorgten für die ersten Rußspuren auf den frisch ausgemauerten Tunnelportalen.
Nach dem euphorischen Neubeginn konnte die Tenda-Linie jedoch nie jene Bedeutung im internationalen Eisenbahnverkehr erlangen, die ihr einst zugedacht war. Selbst bis Turin durchlaufende Züge bleiben die Ausnahme. Das Schattendasein dieser internationalen Bahnverbindung liegt zweifellos an der fehlenden Streckenelektrifizierung. Dabei war Italien in den dreißiger Jahren Vorreiter bei der elektrischen Zugtraktion. Auch auf der Tenda-Bahn fuhren damals abschnittsweise Drehstromlokomotiven. Dies führte später zu dem kuriosen Umstand, daß unter den dahinrostenden Oberleitungsmasten Autos auf der zeitweise zur Notstraße umfunktionierten Bahntrasse fuhren.


Reisetipps:

Anreise: Von Norden mit der Bahn von Turin nach Fossano, Cuneo oder Limone, von wo es meist im Regionaltriebwagen nach Nizza oder Ventimiglia weitergeht. In Breil sur Roya gibt es oft Anschluss in die nicht direkt bediente Richtung. Von Süden vom italienischen Ventimiglia oder vom französischen Nizza aus nach Breil sur Roya und weiter über Tenda nach Cuneo, teils direkt bis Turin.
Ausflüge: Westlich des Roya-Tales befindet sich auf über 2000 Meter Höhe der Nationalpark "du Mercantour". Er ist von St.Dalmas aus über die Straße nach Casterino erreichbar. Vom "Lac des Mesches" aus führt ein Fußweg ins "Vallee des Merveilles", das "Tal der Wunder". In einem Gebiet von über 30 Quadratkilometern rund um den Mont Bego (2872 m) befinden sich Felsgravuren aus der Bronzezeit, die jedoch die meiste Zeit des Jahres von Schnee und Eis bedeckt sind. Der Nationalpark sollte nur unter fachkundiger Führung besucht werden. Im Sommer finden täglich Führungen statt.
Sehenswert: die mittelalterlichen Ortschaften Saorge, Tende, die Olivenstadt Breil sur Roya, das für sein Quellwasser bekannte Dorf Fontan sowie die Kapelle "Notre Dame des Fontaines" bei La Brigue mit Wandgemälden aus dem 15.Jahrhundert.
Essen & Trinken: Wie sollte es in Frankreich anders sein: es gibt zahlreiche Lokale in den einzelnen Orten. Die regionale Küche ist italienisch beeinflußt.
Unterkunft: **Hotels in St.Dalmas, La Brigue und Breil. *Hotels auch in Tende, ansonsten Pensionen und Herbergen. In Breil, Fontan,Tende und St.Dalmas auch Campings.
Weitere Infos:
Association pour le Développement
Touristique des vallées Roya-Bévéra
Boulevard Rouvier
F-06540 Breil sur Roya
Tel.+33 (0)4 93 04 99 90
Fax.+33 (0)4 93 04 99 91
TENDE : Office du Tourisme
Tel +33 (0)4 93 04 73 71
Tel +33 (0)4 93 04 99 76

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